Old Shatterhand – Grand-Seigneur der Mimikresonanz

20. Dezember 2016

Nicht nur im Chefsessel hängt Ihr Überleben von der richtigen Einschätzung Ihrer Mitarbeiter und Geschäftspartner ab. Old Shatterhand ging das jeden Tag so. Ständig geriet good old „Scharlih“ unter zwielichtige Gestalten. Hinter jedem Canon, in jeder Wüste und auf jeder Prärie lauerte die Gefahr. Wem war zu trauen? Weil man sich im Wilden Westen nur auf sich selbst verlassen kann, verlieh Karl May seinem größten weißen Helden neben dem berühmten Hieb auf die Schläfe zusätzlich die Fähigkeit zur Mimikresonanz. In „Winnetou II“ trifft er zum Beispiel auf den Gehilfen eines Händlers, der sich später als Winnetous Erzfeind Santer (der größte Bösewicht nach Darth Vader) entpuppt. Old Shatterhand macht folgende Beobachtung:

„Der Händler war ein Mann in den mittleren Jahren, eine ganz gewöhnliche Erscheinung, ohne irgendetwas auffälliges im guten oder im bösen Sinn. Seine Physiognomie war nicht etwas geeignet, bei der ersten Betrachtung irgendein negatives Urteil hervorzurufen, und dennoch wollte mir der Gesichtsausdruck nicht gefallen. Waren wir wirklich so hervorragende Männer, wie er jetzt zu hören bekommen hatte, musste er sich freuen, uns kennenzulernen. Zugleich war im ein gutes Geschäft in Aussicht gestellt worden. Das musste ihm lieb sein. Aber in seinen Zügen war nichts von Freude oder Befriedigung zu lesen. Ich glaubte vielmehr zu bemerken, dass es ihm nicht recht zu sein schien, mit uns zusammenzutreffen. Doch war es leicht möglich, dass ich mich täuschte. Das, was mir nicht gefiel, konnte eine unbedeutende Zaghaftigkeit sein, der er, der Gehilfe eines Händlers, zwei bekannten Westmännern gegenüber empfand.“

Sagenhaft, oder? Old Shatterhand erfasst instinktiv eine Inkongruenz zwischen den äußeren Umständen und der körpersprachlichen Reaktion des Händlers. Joachim Bauer sagt dazu in seinem Buch „Warum ich fühle, was Du fühlst“: „Intuitive Ahnung können in einem Menschen entstehen, auch ohne das Bewusstsein zu erreichen. (…) Dies liegt unter anderen daran, dass es subliminale, also nicht bewusst registrierte Wahrnehmungen sein können, die in uns Spiegelneurone aktivieren.“ Old Shatterhand ist in der Lage, seine Wahrnehmungen zu reflektieren. Er setzt sie in den Kontext der Ereigenisse. Neurowissenschaftler nennen diesen Vorgang „Theory of Mind“. Das Gehirn konstruiert Zusammenhänge aus den Rahmenbedingungen, Erfahrungswissen und Intuition.

Die wahre Professionalität Old Shatterhands zeigt sich allerdings dadurch, dass er Mimikresonanz-Grundsatz Nummer 2 beherzigt: „Die Mimik verrät nie, warum ein Gefühl auftritt“ (Dirk Eilert). Es könnte möglich sein, dass die fehlende Freude eine Folge von Einschüchterung ist. Joachim Bauer drückt es so aus: „Intuition und rationale Analyse können sich nicht gegenseitig ersetzen. Beide spielen eine wichtige Rolle und sollten gemeinsam zum Einsatz kommen. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir eine Situation richtig bewertet haben, ist dann am größten, wenn Intuition und kritische Reflexion zu ähnlichen Ergebnissen kommen und einander ergänzen.“

Was also tut Old Shatterhand? Zitat Karl May: „Ich überwand mein Vorurteil und forderte ihn auf, sich zu uns zu setzen, da wir geschäftlich miteinander zu sprechen hätten“. Erst mal scharf weiterbeobachten, nicht wahr „Scharlih“?

P.S.: Weder Paul Ekman noch Dirk Eilert erwähnen, dass es irgendwo in Sachsen Mitte des 19. Jahrhunderts Mimikresonanz-Trainer gegeben haben muss …