Empathie-Training
Organisationsentwicklung
Konfliktmanagement
Was Psychologie, Wirtschaftswissenschaften, Gehirnforschung und Gewaltfreie Kommunikation zum Vokabular der Bedürfnisse beitragen
von: Al Weckert
in: Spektrum der Mediation (Oktober 2011), S. 29-32
Als Nadelöhr einer erfolgreichen Konfliktklärung gilt der Moment, in dem sich die Streitparteien von ihren starren Positionen abwenden und Verständnis signalisieren, dass hinter den Handlungen aller am Konflikt beteiligten Parteien »gute Gründe« verborgen liegen. Das Mediationsteam leistet auf dem Weg durch das Nadelöhr permanente Übersetzungsarbeit, indem es die Bedürfnisse hinter den umkämpften Positionen erhellt. Welche Bedürfniswörter unterstützen einen versierten Umgang mit den Bedürfnissen der Streitparteien? Welche Begriffe eignen sich am besten für das Training einer bedürfnisorientierten Sprache im Rahmen der Mediationsausbildung? Der Literaturvergleich zeigt: Mediatoren können ihr Repertoire theoretisch auf drei Begriffe beschränken, die den gemeinsamen Nenner aller gängigen Bedürfnissystematiken bilden. Um Monotonie zu vermeiden, schlage ich in diesem Beitrag 62 weitere Bedürfniswörter vor, über die (fast) dieselbe Einigkeit besteht.
Als der Psychologe Abraham Maslow Mitte des vergangenen Jahrhunderts seine Bedürfnispyramide vorstellte, propagierte er damit eine neue Sichtweise menschlicher Sehnsüchte. Mutig stemmte sich Maslow gegen den Zeitgeist, der Bedürfnisse als ärgerlich, irritierend und unerwünscht verbannte. Seine Gegenthese lautete: Indem der Mensch sich Bedürfnisse erfüllt, erreicht er einen hohen Grad an Reife, Gesundheit und Selbsterfüllung.
Maslow formulierte zwei Arten und sechs Kategorien von Bedürfnissen. Die Befriedigung der drei niedrigeren Bedürfniskategorien (»Defizitbedürfnisse «) Grund- oder Existenzsicherung, Sicherheit und sozialer Anschluss, führt nach Maslow zu Zufriedenheit, die der höheren Bedürfniskategorien (»Wachstumsbedürfnisse «) Anerkennung, Selbstverwirklichung und Transzendenz zu tieferem Glück. »Selbstverwirklichende Menschen, Menschen also, die einen hohen Grad der Reife, Gesundheit und Selbsterfüllung erreicht haben, können uns so viel lehren, dass sie manchmal fast wie eine andere Rasse menschlicher Wesen erscheinen.«
Jeder Bedürfniskategorie ordnete Maslow eine große Menge passender Bedürfnisbegriffe zu. Unter Grund- und Existenzbedürfnisse fallen beispielsweise Nahrung, Wärme und Bewegung, unter Anerkennung die Bedürfnisse Wertschätzung, Respekt und viele weitere. Maslow postulierte, dass Menschen sich erst dann höheren Bedürfnissen zuwenden, wenn alle niedrigeren Bedürfnisse gleichzeitig erfüllt und ausreichend Zeiträume zur Befriedigung weiterer Bedürfnisse vorhanden seien. Die Bedürfnispyramide wurde deshalb nicht nur in der humanistischen Psychologie (Maslows Arbeitsfeld), sondern auch in der Verkaufspsychologie als Erklärungsmodell sehr populär.
Dass Menschen auf eine strikt lineare Weise ihre Bedürfnisse befriedigen, wurde später allerdings auch zum Hauptkritikpunkt an Maslows »Pyramide «. Ihm wurde entgegen gehalten, dass sich im Rahmen des Modells nicht befriedigend erklären lässt, warum Menschen bereit sind für eine Gruppe zu sterben oder warum in manchen Gesellschaften das Wohl der Gruppe über dem des Einzelnen steht. Nur in Kulturen mit westlich-industrialisiertem Statusdenken und ausgeprägtem Individualismus habe die Bedürfnispyramide einen Aussagewert.
Clayton Alderfer, ebenfalls Psychologe, überarbeitete die Annahmen Maslows, indem er sämtliche damals diskutierten Bedürfnisse in drei neue Hauptgruppen einordnete: Existenzbedürfnisse, Beziehungsbedürfnisse und Wachstumsbedürfnisse. Aufgrund der englischen Begriffe »Existence«, »Relatedness« und »Growth« wurden die Thesen Alderfers als »ERG -Theorie« bekannt.
Auch Alderfer stellt allerhand Überlegungen über Gesetzmäßigkeiten der Bedürfnisbefriedigung an, die er als »Dominanzprinzipien« bezeichnete. Interessanter erscheint heute allerdings die Trennung zwischen »Kulturbedürfnissen« und »Naturbedürfnissen «, die Manfred Max-Neef aufgriff. Noch spannender ist, dass die ERG-Kategorisierung bereits in den 1960er Jahren den minimalen gemeinsamen Konsens vorweg nimmt, den die Auswertung aller mir bekannten später erschienenen Listen von Psychologen, Wirtschaftswissenschaftlern, Gehirnforschern und Vertretern der Gewaltfreien Kommunikation aufweist.
Wer in jüngster Zeit deutsche Neurobiologen in einem ihrer Vorträge erlebt hat, der weiß, mit welcher Vehemenz diese über die Bedeutung der Begriffe »Verbundenheit« und »Entwicklung« sprechen. Gerald Hüther beschreibt die Lust an neuen Herausforderungen, an wachsender Autonomie und die Hoffnung, immer weiter mit anderen Menschen verbunden zu sein, als prägende Kindheitserfahrung. Joachim Bauer sprach auf dem Bundeskongress Mediation über die Gefahren und gewaltsamen Folgen von Isolation und Ausgrenzung.
Im Gegensatz zu Maslow und Alderfer lehnt der chilenische Wirtschaftswissenschaftler Manfred Max-Neef eine Rangfolge unter den Bedürfnissen mit Ausnahme der Existenzsicherung ab. Bedürfnisbefriedigung stellt für Max-Neef einen Prozess dar, der Gleichzeitigkeit, Gegensätzlichkeit und Kompromisse beinhaltet. Diese Erfahrung entspricht unserer Alltagserfahrung: Manchmal haben wir Hunger und möchten trotzdem erst eine Aufgabe erfolgreich abarbeiten. Der Anruf eines guten Freundes kann beide Bedürfnisse schlagartig in den Hintergrund drängen.
Für Max-Neef gibt es nur neun, klar abgrenzbare Bedürfnisse, die jeder Mensch auf der Welt kennt und die das menschliche Handeln antreiben : Lebenserhaltung, Schutz, Zuneigung, Verständigung, Beteiligung, Spiel (Muße), kreatives Schaffen, Identität und Freiheit. Jedes Bedürfnis kann sich in Form eines Mangels zeigen und Konflikte verursachen, wenn seine Erfüllung mit den Bedürfnissen anderer Menschen kollidiert.
Max-Neef ordnet diesen wenigen universellen, zu jeder Zeit und in jeder Gesellschaft gleichen Grundbedürfnissen allerdings noch eine Vielzahl von Bedürfniserfüllern zu, die sich von Kultur zu Kultur unterscheiden. Wer sich ein wenig Muße verschaffen will, kann sich sein Bedürfnis durch Entspannung oder Amüsement erfüllen. Versicherungen oder Familie dienen als Bedürfniserfüller beide dem Grundbedürfnis Schutz (Sicherheit). Umgekehrt kann ein einziger Bedürfniserfüller wie Arbeit unterschiedlichen Bedürfnissen wie Kreativität oder Lebenserhaltung dienen. Für die Mediation erschließt Max-Neef damit ein großes Repertoire an Begriffen, die weit über die neun Grundbedürfnisse hinausgehen und trotzdem weder Lösungsstrategien ausdrücken, noch festgefahrene Positionen versteifen.
Marshall B. Rosenberg, der Begründer der Gewaltfreien Kommunikation, bezeichnet Bedürfnisse wie seine Vorgänger als zentrales Motivationssystem und darüber hinaus als die Wurzel aller Gefühle. Seine Hauptthesen lauten: Alles was Menschen tun, tun sie aufgrund von Bedürfnissen. Bleiben Bedürfnisse unerfüllt, äußert sich dies in unangenehmen Gefühlen. Gefühle funktionieren wie Warnlampen im Auto, die den niedrigen Füllstand eines Bedürfnistanks anzeigen. Diese unmittelbare Verknüpfung von Gefühlen und Bedürfnissen, deren Grundgedanke Rosenberg im Studium bei Carl Rogers entwickelt hat, stellt einen äußerst nützlichen Beitrag für die Kommunikationstheorie und die Mediationspraxis dar.
Unser kulturelles Muster lehrt uns, dass immer irgendjemand daran schuld sein muss, wenn wir unangenehme Gefühle erleben. Dabei handelt es sich – wie wir in der Mediation erleben – meistens um »die anderen«. Auch Ärger, Scham und Depression können einen Konflikt verschärfen, nämlich dann, wenn wir uns selbst die Schuld für unerfüllte Bedürfnisse geben und dabei »als Leidende unserer selbst« gleichermaßen aus dem Kontakt gehen. Für Marshall B. Rosenberg beginnt erfolgreiche Vermittlung genau in dem Moment, in dem es den Streitparteien gelingt, unabhängig vom Auslöser eines Konflikts die Verbindung zwischen ihren unangenehmen Gefühlen und den damit verknüpften unerfüllten Bedürfnissen herzustellen. Dies ist das eingangs erwähnte Nadelöhr der Konfliktklärung. Weil sich jedes Bedürfnis durch eine Vielfalt von Strategien erfüllen lässt, können die Streitparteien nun gemeinsam überlegen, welche Strategien das Ziel der Bedürfnisbefriedigung erfüllen, ohne auf Kosten der anderen Parteien zu gehen.
Der Weg zu gegenseitigem Verständnis ist manchmal steinig und erfordert einen langen Atem. Auf diesem Weg zahlen sich. das Training und die Anwendung vielfältiger Bedürfnisformulierungen aus. In seinen Büchern bietet Berichte zum Thema Marshall Rosenberg rund 50 bewährte Bedürfnisbegriffe an. Rosenberg betont immer wieder, dass es sich dabei um Vorschläge handelt, die von den Anwendern für ihren individuellen Bedarf angepasst und gegebenenfalls verändert oder erweitert werden können.
Auch wenn man der Ansicht ist, dass es im Leben immer nur um drei zentrale Bedürfnisse geht, braucht man im Rahmen einer Mediation mehr Bedürfnisbegriffe als »Existenzsicherung«, »Verbindung « und »Entwicklung«. Selbst wenn man auf Max-Neefs Unterscheidung von neun Grundbedürfnissen schwört, würde eine Beschränkung auf diese wenigen Begriffe in der Mediation zu ständiger Wiederholung, einer sehr mechanisch klingenden Kommunikation und mit Sicherheit zu starker Irritation der Klientinnen führen.
Deshalb bieten alle Bedürfnissysteme von Maslow über Alderfer, von MaxNeef zu Rosenberg eine Vielzahl alternativer Begriffe für die konkrete Konfliktklärung an. Für meinen Vorschlag einer »ultimative Bedürfnisliste« habe ich über die Bedürfnisangebote oben erwähnter Autoren hinaus die Vorschläge von Beate Brüggemeier, Gerlinde Ruth Fritsch, Klaus Dieter Gens, Monika Oboth, Susann Pasztor, Gabriele Seils und diverser Internetquellen miteinander verglichen. Der Begriff »ultimativ« ist ein selbstironischer Hinweis darauf, dass das Ringen um Definitionen niemals endet und schon gar nicht eine empathische Haltung hinter den Worten ersetzen kann.
Die Psychologen Maslow (geb. 1908) und Alderfer (geb. 1940) haben den Bedürfnisbegriff in den 5Oer und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts aus der »Schmuddelecke« geholt. Die Friedensaktivisten Max-Neef (geb. 1932) und Rosenberg (geb. 1943) haben wegweisende Ideen formuliert, wie wir das Bedürfnisvokabular in der Mediation nutzen können. Meiner Einschätzung nach werden die nächsten prägenden Impulse von Neurobiologen und Gehirnforschem ausgehen, die den menschlichen Motivationssystemen immer genauer auf die Spur kommen.
Denn Bedürfnisse weisen nicht nur auf Mangel hin, sondern auch auf Potenziale. »Wir haben uns weit voneinander entfernt und dabei manchmal vergessen, dass wir miteinander verbundene, voneinander abhängige und aneinander wachsende Einzelwesen sind. Jetzt finden wir allmählich unsere gemeinsamen Wurzeln wieder und beginnen ganz langsam zu verstehen, dass wir alle mit den gleichen Bedürfnissen(…) unterwegs sind, alle Menschen, überall auf der Welt. Das ist neu. Das gab es so, in dieser globalen Weise, noch nie« (Gerald Hüther, in: »Was wir sind und was wir sein könnten«).
AUTONOMIE
Freiheit, Selbstbestimmung
KÖRPERLICHE BEDÜRFNISSE
Luft, Wasser, Bewegung, Nahrung, Schlaf, Distanz, Unterkunft, Wärme, Gesundheit, Heilung, Kraft, Lebenserhaltung
INTEGRITÄT/ STIMMIGKEIT MIT SICH SELBST
Authentizität, Einklang, Eindeutigkeit, Übereinstimmung mit eigenen Werten, Identität, Individualität
SICHERHEIT
Schutz, Übersicht, Klarheit, Abgrenzung, Privatsphäre, Struktur
VERBINDUNG
Wertschätzung, Nähe, Zugehörigkeit, Liebe, Intimität/Sexualität, Unterstützung, Ehrlichkeit, Gemeinschaft, Geborgenheit, Respekt, Kontakt, Akzeptanz, Austausch, Offenheit, Vertrauen, Anerkennung, Freundschaft, Achtsamkeit, Aufmerksamkeit, Toleranz, Zusammenarbeit
ENTSPANNUNG
Erholung, Ausruhen, Spiel, Leichtigkeit, Ruhe
GEISTIGE BEDÜRFNISSE
Harmonie, Inspiration, »Ordnung«, (innerer) Friede, Freude, Humor, Abwechslungsreichtum, Ausgewogenheit, Glück, Ästhetik
ENTWICKLUNG
Beitrag, Wachstum, Anerkennung, Feedback, Rückmeldung, Erfolg im Sinne von Authentizität, Einklang, Eindeutigkeit, Gelingen, Kreativität, Sinn, Bedeutung, Übereinstimmung mit eigenen Werten, Effektivität, Kompetenz, Lernen, Feiern, Identität, Individualität Trauern, Bildung, Engagement
(c) Al Weckert 2011
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