Marshall Rosenberg Biografie Teil 1

11. Dezember 2013

Teil 1: Kindheit und Jugend 1934-1953 – Elternhaus + Schlüsselerlebnisse mit Gewalt und Empathie. Der erste Teil der Biografie berichtet, wie Marshall Rosenberg als Kind und Jugendlicher für die Verhaltensoptionen Gewalt und Einfühlsamkeit sensibilisiert wurde. Der Text erzählt von den blutigen Rassenunruhen in Detroit und dem Antiseminismus, der Marshall Rosenberg als Schüler entgegenschlug. Sie erfahren Details über den introvertierten Vater und die lebenslustige Mutter, die ihr Geld als Bowling- und Kartenspielerin verdiente. In seiner Jugend schwankte Marshall Rosenberg zwischen dem Versuch, sich für seine Umwelt unsichtbar zu machen, oder aggressiver Selbstbehauptung bis hin zu Schlägereien, in deren Folge er mehrfach im Krankenhaus landete. Der erste Teil der Marshall Rosenberg Biografie endet mit dem Umzug in ein ruhigeres Stadtviertel und der Entscheidung Psychologie zu studieren.

Hier finden Sie den Link zur vollständigen Biografie von Marshall Rosenberg.

Geburt in Ohio, USA

Marshall Rosenberg wurde am 6. Oktober 1934 im US-amerikanischen Canton, Ohio geboren. Ohio liegt im mittleren Nordosten der USA. Die ersten Jahre seiner Kindheit verbrachte Rosenberg in der Kleinstadt Steubenville. Als sein Vater – ein Transportarbeiter – im Jahr 1943 ein Arbeitsangebot in Detroit erhielt, zog die Familie in die berühmte Autometropole. Die Eltern fanden eine preisgünstige Wohnung in einem Stadtviertel, das überwiegend von Schwarzen bewohnt wurde.

Marshall Rosenberg sammelt erste Gewalterfahrungen in Detroit

Der Umzug nach Detroit hatte eine prägende Wirkung auf Marshall Rosenberg. Noch im selben Jahr brachen in Detroit schwere Rassenunruhen aus. Während der Krawalle durfte Marshall Rosenberg vier Tage lang die Wohnung nicht verlassen. In der der unmittelbaren Nachbarschaft starben in weniger als einer Woche 30 Menschen durch rassistische Gewalttaten. „Wir wohnten genau im Mittelpunkt“. Aus dem Fenster beobachtete der junge Marshall Rosenberg, wie sein weißer Nachbar (Mr. Swain) mit einem Gewehr und einer Axt bewaffnet an der Straßenecke auf arbeitssuchende Schwarze wartete.

Bei der Einschulung wurde sich Marshall Rosenberg erstmals der Besonderheit seiner Religionszugehörigkeit bewusst. Als der Lehrer der Klasse seinen Namen vorlas, fragte ihn ein Mitschüler aus den vorderen Reihen: „Are you a kike?“ (das Wort „kike“ ist ein angelsächsisches Schimpfwort für Juden). Mit Judenhass wusste Marshall Rosenberg zunächst nichts anzufangen. Als ihm aber am Ende des Schultages zwei Mitschüler auflauerten, um ihn zu verprügeln, bekam Marshall Rosenberg einen ersten Eindruck von der Gewalt, die Menschen aufgrund ihrer Religion oder Rassenzugehörigkeit widerfahren kann. Von diesem Tag an war der Schulweg für Marshall Rosenberg von Angst begleitet. Er lernte, den Nachhauseweg im Sprint von Häuserblock zu Häuserblock zurück zu legen.

Marshall Rosenberg fragt nach den Ursachen von Gewalt

Zwei Gewalterfahrungen (Rassenunruhen mit Todesfolge in der Nachbarschaft und Prügel aufgrund seiner Religionszugehörigkeit) führten dazu, dass sich Marshall Rosenberg Fragen stellte, die seinen weiteren Lebensweg prägten: Warum fügen sich Menschen Schmerz zu? Was trägt zur Gewalttätigkeit von Menschen bei?

Marshall Rosenberg begegnet empathischen Persönlichkeiten

Neben den Gewalterfahrungen erlebte Marshall Rosenberg in seiner Kindheit jedoch auch diametral entgegengesetzte Erfahrungen mit der wohltuenden Wirkung von Empathie. Im Hause der Rosenbergs wurden mehrere Menschen von den Familienangehörigen aufopfernd gepflegt. Seine Großmutter war am Lou-Gehrig-Syndrom (Amyotrophe Lateralsklerose) erkrankt. Mehrere Jahre lang lag oder saß die Großmutter sterbend und kaum eines Wortes fähig in der Küche des Hauses. Auch der Großvater war stark pflegedürftig. Aufgrund von Senilität lief er gelegentlich nackt durch die Straßen des Viertels. Zusätzlich wurde eine Tante mütterlicherseits aus einem Pflegeheim geholt und in das Haus der Rosenbergs aufgenommen.

Marshall Rosenberg und sein Onkel Julius

Einen wesentlichen Teil der Pflege übernahm dabei der Bruder seiner Mutter, Onkel Julius. Onkel Julius betrieb eine Apotheke in der schwarzen Nachbarschaft (Woodward Avenue). Er war niemals beraubt worden, was Marshall Rosenberg auf die starke Empathiefähigkeit zurückführte, die Onkel Julius seinen Kunden entgegenbrachte. Selbst von den Rassenunruhen war seine Apotheke verschont geblieben.

Wenn Onkel Julius dem jungen Marshall Rosenberg begegnete, strahlte er und rief: „That‘s my boy!“ Für die Zuneigung von Onkel Julius musste Marshall Rosenberg nichts tun. „Um mich geliebt zu fühlen, musste ich einfach nur da sein. Ich wurde von so vielen Menschen gehasst, dass mir die Anwesenheit von Onkel Julius vorkam, als ob das Christkind vorbei gekommen wäre.“
Als der Onkel viele Jahre später starb, fragte ihn Marshall Rosenberg nach dem Geheimrezept für seine starke Empathiefähigkeit. Der Onkel lächelte bei seiner Antwort, das Thema schien ihm zu gefallen. Er antwortete: „Ich hatte gute Vorbilder“. Damit war in erster Linie die Großmutter von Marshall Rosenberg gemeint (die Schwiegermutter von Onkel Julius).

Onkel Julius bezeichnete die Großmutter von Marshall Rosenberg als „große Seele“. Zahlreiche Geschichten kursierten, wie sie ihre neun Kinder in völliger Armut erfolgreich großgezogen hatte. Ihr Motto lautete: „Never walk, when you can dance“. Obwohl sie sehr beleibt war, organisierte sie Tanzkurse für benachteiligte Arbeiterkinder. Oft lud sie notleidende Mitbewohner des Viertels zu sich nach Hause ein, sodass ihre Kinder „selten im eigenen Bett schliefen“. Eines Tages klopfte ein Bettler an die Türe, der sich als „Jesus the Lord“ vorstellte. „Jesus“ blieb für sieben Jahre bei den Rosenbergs, ein arbeitsloser Schneider des Viertels zog mit Frau und Kindern für drei Jahre ein.

Marshall Rosenberg fragt nach den Ursachen für Empathiefähigkeit unter schwierigsten Umständen

Die Besuche von Onkel Julius, die aufopfernde Pflege von Familienmitgliedern und die Geschichten über seine Großmutter regten Marshall Rosenberg zu weiteren Fragen an, die über viele kommende Jahre zum Entstehungsprozess der Gewaltfreien Kommunikation führten: Warum bleiben manche Menschen auch unter schlimmsten Umständen einfühlsam? Wie lässt sich Empathiefähigkeit fördern und die spontane Entscheidung zwischen Gewalttätigkeit und Einfühlsamkeit zu Gunsten letzterer beeinflussen?

Das Wissen über a) Lernen am lebendigen Beispiel von Vorbildern und b) gegenseitige Bestärkung durch empathische Gemeinschaften hat das Trainingsmodell von Marshall Rosenberg nachhaltig beeinflusst.

Die Emotionslosigkeit des Vaters

Der Vater war Transportarbeiter mit einem schmalen Wochenlohn von 15 Dollar. Marshall Rosenberg bezeichnet ihn als einen emotionslosen Mann. Er erzählt, dass sein Vater – genau wie sein Großvater und er selbst (als junger Mann) – zurückgezogen in seiner eigenen Welt lebte. Die Frauen in seiner Umgebung seien mit dieser Emotionslosigkeit nur schwer zu Recht gekommen. „Sie wollen uns präsenter und lebendiger.“ Rosenbergs Mutter zog ihren Mann mit dem Spruch auf: „Du bist dreihundert Jahre alt“. Die Anspielung galt seinem regungslosen, versteinerten Gesichtsausdruck. Marshall Rosenberg erzählt, dass seine Frau diesen Satz auch über ihn hätte prägen können.

Die starke Persönlichkeit der Mutter

Rosenbergs Mutter stammte aus Detroit, wo ihre Familie lebte. Rosenberg berichtet von ihr als eine starke Persönlichkeit: „Sie hätte eine Führerin sein können, wenn es damals schon die Frauenbefreiung gegeben hätte.“ Die Hausfrauenrolle war ihr zuwider.

Sie arbeitete als professionelle Bowling-Spielerin und Kartenspielerin. Fünf Abende pro Woche nahm sie an Bowling-Wettbewerben teil. Als Kartenspielerin genoss sie den Schutz der jüdischen Mafia („Purple Gang“). Sie lebte unter Gangstern, Prostituierten, Schwulen und Lesben. Marshall Rosenberg beschreibt seine Mutter als „großartige Kartenspielerin“ mit „Nerven aus Stahl“

Auf diese Eigenarten war Marshall Rosenberg stolz. Oft hätte er sie aber auch gerne anders erlebt. Denn sie förderte seine Gewaltbereitschaft, indem sie ihn zuredete, sich nichts gefallen zu lassen: „You got to hit them first.“ Wenn er mit Knochenbrüchen im Krankenhaus lag, nannte sie ihn einen „richtigen Jungen“. In dieser Zeit nahm Rosenberg viele gewalttätige Gewohnheiten an, die er als Erwachsener wieder mühsam abstreifen musste.

Eine weitere emotionale Belastung stellten die zahlreichen Streitigkeiten zwischen seinen Eltern dar. In einem Workshop erzählt Marshall Rosenberg 1992: „Ich bin gerade von meiner Mutter zurück gekommen, mit der ich anderthalb Tage verbracht habe. Ich bin glücklich, dass ich viele Giraffenohren hatte, die mir vorher und nachher zugehört haben. Ich brauchte eine Menge Nahrung im Voraus, um die vier oder fünf Stunden auszuhalten, die sie mit meinem Vater herumschrie.“ Die Eltern von Marshall Rosenberg haben sich zwei Mal voneinander scheiden lassen, nur um anschließend wieder zusammen zu kommen.

Distanz zum Bruder

Seinem Bruder blieb Marshall Rosenberg viele Jahrzehnte lang entfremdet. Zu unterschiedlich waren die Charaktere. Der Bruder war kontaktfreudig und gesellig. Während Marshall Rosenberg möglichst unsichtbar sein wollte, zog der Bruder die Aufmerksamkeit auf die beiden. „Er war wie meine Mutter und meine Frau Gloria.“

Horrorgeschichten der Verwandtschaft

Wenn Rosenberg seinen Verwandten von seiner Angst vor der Gewalt in seinem Umfeld erzählte, reagierten diese mit noch schlimmeren Horrorgeschichten aus Russland oder vom Holocaust. Sie erzählen ihm von Pogromen und Kosaken, von Gaskammern und Konzentrationslagern. Sie wollten ihn trösten, aber brachten ihn gegen sich auf.

Marshall Rosenberg empfand diese Tröstungsversuche als Schema. Es sei, wie wenn man einem ängstlichen oder todtraurigen Menschen anstatt Empathie und Anteilnahme Hühnersuppe zur Beruhigung anbiete. „Don’t chicken soup me“ lautete von nun an das Credo des jungen Marshall Rosenberg.

Entwicklung zum Rowdy und Rauswurf aus der Schule

Von der Schule gelangweilt, begann Marshall Rosenberg zu rebellieren. Er galt als hochintelligent, die Erwartungen an ihn waren groß. „Das erzeugte noch mehr Stress in mir“. Er entwickelte sich zu einem Rowdy, nach eigener Darstellung zum „schlimmsten Kind der Schule“. Marshall Rosenberg wurde von drei Schulen verwiesen, die Lehrer wussten nicht, wie sie mit ihm umgehen sollten.

Auf der Straße erarbeitete er sich den Ruf eines gefürchteten Schlägers. Nachmittags verdiente er sich Geld als Boxtrainer für Stadtjugendliche. „Ich liebte Sport wie verrückt.“ Aber im tiefsten Inneren verabscheute er die Gewalt und den Wettbewerb des Kampfes. „Heute kann ich das unterscheiden.“

Rückzug in den Selbsthass

Allmählich begann sich Marshall Rosenberg zurück zu ziehen. Er bemerkte, dass seine Eltern ihre Aufmerksamkeit für Opa, Oma und Tante aufbrauchten. „Es gab nicht viel, was sie mir geben konnten.“ Für seine Sorgen und Problem gab es kein offenes Ohr. „Ich machte mich unsichtbar. Ich wollte niemanden belasten.“ Was er zurückbekam, wenn er sich Gehör verschaffte, gefiel ihm nicht.

Seine Mutter feuerte ihn an, sich nichts von anderen bieten zu lassen. „Wir sind das ausgesuchte Volk“. Aus ihrer Sicht war die Gewalt, unter der Marshall Rosenberg litt, Ausdruck des Neids auf starke Menschen. Marshall Rosenberg fragte sich dagegen: „Warum soll irgendjemand auf meine Situation neidisch sein?“

In dieser Zeit lernte Marshall Rosenberg sich selbst zu hassen. „Ich fühlte mich als verachteter Angehöriger einer Minderheit.“ Marshall Rosenberg hasste seine Familie und seine Religionszugehörigkeit. In den kommenden 20 Jahren verleugnete er vor weiblichen Bekanntschaften seinen Namen. „Ich beneidete die Christen.“ Unbewusst verstärkte sich die vom Vater geerbte steinerne Härte im Gesichtsausdruck. Unsichtbarkeit ermöglichte es ihm, seine Gefühle zu verbergen.

Gleichzeitig wurden die Verinnerlichung des Hasses und die kulturelle Zurückweisung zum Antrieb für seine zukünftige Arbeit. Marshall Rosenberg entwickelte ein tiefes Verständnis für alle Menschen, die in einer Kultur leben, die nicht die ihre ist.

Aggressive Angewohnheiten

Marshall Rosenberg erzählt, dass er zwar Schmerz gut aushalten konnte, aber es nicht vertrug ausgelacht oder aufgezogen zu werden. Dann zettelte er Schlägereien an, obwohl er Schlägereien verabscheute. Er gewöhnte sich einen bedrohlichen Gang, eine knurrende Ausdrucksweise und einen bösen Blick an. Er trainierte die Fähigkeit, seine Angst zu verbergen und anderen mit seiner Ausstrahlung Furcht einzujagen.

„Vieles davon, versuche ich heute noch zu verlernen“. So erzählt Marshall Rosenberg, wie in einem GFK-Training der 70er Jahre einer seiner Freunde verbal angegriffen wurde. Als sich in den Augen des Freundes tiefer Schmerz zeigte, begann Marshall Rosenberg Sachen um sich zu schmeißen. Er schrie: „I am not taking any more of this shit.“ Die Fähigkeit, die Kraft für einfühlsame Kommunikation auch in schwierigen Situationen aufrechterhalten zu können, musste sich Marshall Rosenberg Schritt für Schritt neu aneignen.

High School-Jahre

Im Jahr 1950 zogen die Rosenbergs in ein eigenes Haus in einem ruhigen Stadtteil. Marshall Rosenberg besuchte nun die Cooley High School. Dort fühlte er sich zum ersten Mal sicher, akzeptiert und beliebt. Als Problem erlebte er weiterhin den Antisemitismus und die daraus resultierenden Vorbehalte der Mädchen. „Mit Ausnahme des Antisemitismus war die High School wundervoll.“

1953 schloss Marshall Rosenberg die High School mit seiner „Graduation“ erfolgreich ab. Clayton Lafferty, das älteste Kind der Nachbarschaft, erzählte ihm von seinem angehenden Psychologie-Studium. Weil Marshall Rosenberg in der High School einen Aufsatz zum Thema „Kriminalpsychologie“ verfasst hatte, machte ihn diese Option neugierig. Er entschloss sich ebenfalls Psychologie zu studieren.

(c) Al Weckert

Quellen zur Marshall Rosenberg Biografie

  • Cross Witty, Marjorie (1985): Life History Studies of Committed Lives, Interview für ihre Dissertation mit Marshall Rosenberg
  • Rausch, Martin (2003): Biographie Marshall Rosenberg, Zürich
  • Rosenberg, Martin (1971): Community Psychology as applied by a clinician, Social Change, Vol. 1, No.2, 1971
  • Rosenberg, Marshall B. (2002): NVC: Create Your Life, Your Relationships, and Your World in Harmony With Your Values . CNVC-Shop [4 CDs]
  • RTBF Bruxelles (2003): Interview mit Marshall Rosenberg. [Interview von Michèle Cédric, englisch-französisch]
  • Spiro, Guy (1992): Interview mit Marshall Rosenberg
  • Steinweg, Reiner (1996): Interview mit Marshall Rosenberg
  • Techner, Isolde (2005): Interview mit Isolde Techner [München, 28 Minuten]

Hilfreie Links zu Marshall Rosenberg

Marshall Rosenberg und das Center for Nonviolent Communication CNVC

Marshall Rosenberg bei Wikipedia

Die Marshall Rosenberg Diskografie

Witze zum Thema Gewaltfreie Kommunikation

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