Empathie-Training
Organisationsentwicklung
Konfliktmanagement
“Weckert liest”: Kompass der Gerechtigkeit. Ein Blick in den Atlas und was wir davon lernen können.
von: Al Weckert
in: Kommunikation & Seminar, Juni 2013, S. 60-61
Eine der faszinierendsten Leistungen der Weltgeschichte ist die Entdeckung Amerikas durch Christoph Columbus im Jahr 1492. Wie bei keinem anderen Abenteurer fesselt mich an Columbus die unglaubliche Kühnheit seines Denkens. Über viele Jahre hinweg puzzelte er jede erdenkliche Information über die Beschaffenheit der Welt zusammen. Er berücksichtigte Reiseberichte und geografische Fakten, aber auch Mythen der Antike, Seemannsgarn und märchenhafte, mündlich überlieferte Reiseberichte des Mittelalters. Aus all dem formte er eine Theorie, die so richtig wie falsch war. Er suchte Indien und fand Amerika, weil er etwas Wesentliches verstanden hatte: wie die Winde über dem Atlantik wehen, und dass in Richtung Westen bereits Land gesehen worden war.
Das Buch „Die letzte Reise. Der Fall Christoph Columbus” von Klaus Brinkbäumer und Clemens Höges erzählt davon, wie Columbus aus den falschen Gründen das Richtige tat und seine portugiesischen Gegner aus den richtigen Gründen das Falsche. Die Portugiesen lehnten seine Pläne ab, weil seine geografischen Berechnungen vom Umfang der Erde und der Distanz zwischen Portugal und Indien ganz offensichtlich falsch waren. Diese Kritik versperrte Portugal den Zugang zu einem Weltreich. Die gelehrten Herren besaßen nicht die Fantasie zu erkennen, dass Columbus in allen anderen Annahmen recht hatte und trotzdem auf Land stoßen würde.
Durch das Buch „Die letzte Reise” lernte ich einen Mann kennen, dessen Kühnheit, Beharrlichkeit und geistige Freiheit mir zum Vorbild wurde. Als ich es meinen Kindern vorzulesen begann, musste ich zu meiner Überraschung feststellen, dass es noch einen anderen Columbus gibt, den ich – geblendet vom Glanz seines Genies – bisher nicht beachtet hatte. Meine Töchter sehen in Columbus einen Sklavenhalter, einen frauenfeindlichen Unterdrücker (der Vergewaltigungen toleriert) und einen goldgierigen Kulturzerstörer. Ich durfte das Buch nur unter dem Versprechen zu Ende lesen, dass es mit Columbus ein böses Ende nimmt.
Meine Töchter zeichneten beim Vorlesen die Seefahrten und die Winde nach, und die fruchtbaren, wenn auch schwierigen Diskussionen mit ihnen weckten meine Neugier. So kam ich auf den Gedanken, weitere Atlanten anzuschaffen. Mehrere Monate lang haben wir jeden Abend gemeinsam eine Stunde alternativen Erdkundeunterricht betrieben. Freiwillig und voller Neugierde. Ich habe aus verrückten Büchern vorgelesen, meine Töchter haben gemalt und geträumt. Seitdem wissen meine Kinder, wo die Kontinente und Länder liegen, von denen sie in den Nachrichten hören. Hier folgt eine Auswahl von Büchern, die uns Spaß bereitet und teilweise auch schockiert haben.
Im Mare-Verlag ist der wunderschön gebundene „Atlas der abgelegenen Inseln” von Judith Schalansky erschienen. Sie erzählt von „fünfzig Inseln, auf denen ich niemals war und niemals sein werde”. Jeden Abend lese ich den Kindern die Geschichte einer Insel vor und zeige passende Bilder, die ich am Vorabend aus dem Netz gefischt habe. Auf diese Weise haben meine Kinder erfahren, dass es Robinson Crusoe wirklich gab (ausgesetzt auf den chilenischen Juan-Fernandez- Inseln). Bei der Lektüre entsteht ein wildes, keinesfalls romantisches Bild von einer entlegenen Inselwelt, auf der sich keine Zivilisation wirklich halten konnte. Die Häuser der Juan-Fernandez-Inseln wurden 2011 von einem Tsunami zerstört.
Im Unterschied zur Reise auf abgelegene Inseln taucht das Buch „Deutschland verstehen” von Ralf Grauel und Jan Schwochow (Gestalten Verlag) tief in unsere Gesellschaft und Massenkultur ein. Auf großformatigen Doppelseiten werden Aspekte deutscher Gegenwart in Form einer sogenannten Explosionszeichnung erklärt und illustriert. Arbeitswege und Besucher im Fußballstadion von Bayern München, Teilnehmer und Umfeld einer Demonstration, die Zulieferstruktur eines Automobilwerks oder Seilschaften innerhalb einer Landeshauptstadt (Hannover) – die Kinder erhalten eine Ahnung von der Komplexität der Wirklichkeit, die sie umgibt. Am liebsten diskutieren sie natürlich über eher bizarre Aspekte wie die radioaktive Strahlung einer Banane im Vergleich zur AKW-Havarie in Fukushima. Dabei lernen sie etwas über die abstrakte Darstellung von Informationen und schulen die Verknüpfung der Gehirnhälften (Zahlen plus Bilder).
Aus dem „Beschissatlas” von Ute Scheub und Yvonne Kuschel (Ludwig Verlag) darf ich uns hingegen nur sehr dosiert vorlesen. Es besteht die Gefahr, schlecht drauf zu kommen. Man schlägt die Seiten auf und nimmt beklommen zur Kenntnis: In den USA gibt es mehr Fernseher als Menschen. Je mehr ein Mensch fernsieht, umso mehr hält er die anderen für reich und sich selbst für arm und unglücklich. Und so weiter und so fort. Die taz-Mitbegründerin Ute Scheub möchte mit ihrer ungeheuren Datensammlung aufrütteln und zum Einsatz für mehr Gerechtigkeit motivieren. Richtig so! Für ein wenig Balance und Vergnügen sorgen die fantasievollen Illustrationen von Yvonne Kuschel (Scherenschnitt- Girlanden aus Panzern „.) und das angenehm weiche Papier, auf dem gedruckt wurde.
Die Zeitung Le Monde diplomatique analysiert seit 2003 in Zusammenarbeit mit dem taz-Verlag die galoppierenden Veränderungen in der Weltpolitik unter dem Titel „Atlas de.r Globalisierung”. Inzwischen gibt es etliche dieser modernen Atlanten, die politische Zusammenhänge exzellent illustrieren. 2012 ist der Band „Die Welt von morgen” erschienen, mit einem Blick in die Zukunft von Gesellschaft, Wirtschaft und Ökologie.
Im gleichen Format und in Zusammenarbeit mit der Heinrich-Böll-Stiftung erscheint der „Fleischatlas” mit aktuellen Daten und Fakten über Tiere als Nahrungsmittel. Sie ahnen es: Wer nicht schon Vegetarier ist, verliert bei der Lektüre die Lust am Fleischkonsum. Drastischer fällt der Schock nur aus, wenn Sie sich dazu den vielfach ausgezeichneten Film „Unser täglich Brot über die industrielle Erzeugung von Nahrungsmitteln anschauen. Mahlzeit!
In Reichweite meiner Couch und meines Ofens steht der „Historische Weltatlas” von Dr. Walter Leisering (Marixverlag), der die Entwicklung der Welt von der Altsteinzeit bis heute nachvollzieht. Für unter zehn Euro erhalten Sie über 150 perfekt gezeichnete geschichtliche Überblicke, z.B. über Südamerika im 19. Jahrhundert. Damit kann ich meinen Kindern u. a. zeigen, welches Erbe Columbus hinterließ. Ein Lesevergnügen noch noblerer Art ist der „Putzger – Atlas und Chronik zur Weltgeschichte”. Dieses schwere und große Buch können Sie wie einen Krimi verschlingen. Kurze Texte und riesige Schaubilder ziehen Sie hinein in den dramatischen Verlauf der Geschichte.
Ein Lesevergnügen noch noblerer Art ist der „Putzger – Atlas und Chronik zur Weltgeschichte”. Dieses schwere und große Buch können Sie wie einen Krimi verschlingen. Kurze Texte und riesige Schaubilder ziehen Sie hinein in den dramatischen Verlauf der Geschichte.
Oft erschrak ich beim Lesen darüber, wie gewalttätig die Geschichte ist. An einigen Stellen überblätterte ich Informationen, die ich für meine Kinder unzumutbar empfand. Die relative Freiheit, in der sie aufwachsen, und die respektvolle Kommunikation, die sie in der Auseinandersetzung mit uns Eltern erleben, sind jedoch ebenfalls ein Ergebnis der Geschichte. Auch der Entdecker Columbus kann noch inspirierend auf uns wirken. Was geschieht, wenn wir so entschlossen wie er nach Wegen suchen, um Gewalt, Habsucht und Patriarchat zu überwinden?
(c) Al Weckert
Mein Newsletter informiert Sie über aktuelle Termine, kommende Workshops und Wissenswertes zu Empathie. Der Newsletter wird ca. 1 mal im Monat ausgesendet, ist kostenlos und kann jederzeit abgemeldet werden.