Einfühlen und heilen: Das moderne Krankenhaus ist ein kleines Wunder an Technik und Organisation. Doch erst Empathie erhöht die Arbeitszufriedenheit, verbessert die Behandlung und senkt die Konfliktkosten.
von: Al Weckert
in: Kommunikation & Seminar (Februar 2011) – “Auf dem Weg zur klinischen Empathie”!
Medizinisches Personal schätzt die Bedeutung von Empathie für den Heilungserfolg als genauso wichtig ein wie fachliche Kenntnisse. Das belegen Studien und Befragungen unter Ärzten, Pflegern und Therapeuten. Die Empathiefähigkeit, also die Fähigkeit, sich spontan in die Gefühls und Bedürfnislage anderer Menschen einzufühlen, nimmt jedoch während der Ausbildung in Gesundheitsberufen Monat für Monat ab, auch das zeigen vergleichende internationale Studien.
Was erwartet die Absolventen dieser Ausbildungen im klinischen Alltag? Eine Welt, die sich von ihnen einen einfühlsamen Umgang mit immer aufgeklärteren und anspruchsvolleren Patienten wünscht. Eine Welt, die trotz Personalmangels, strenger Soll-Werte und ständig wechselnder Strukturen auf ein kooperatives und wertschätzendes Verhältnis zu Kollegen, Mitarbeitern und Vorgesetzten angewiesen ist. Kliniken und Krankenhäuser brauchen medizinisches Personal mit einem Höchstmaß an sozialer Kompetenz. Deshalb beginnen erste Großbetriebe, ihre Mitarbeiter gezielt und gründlich in empathischer Kommunikation auszubilden. Die Ergebnisse sind ermutigend: Klinische Empathie führt zu höherer Arbeitszufriedenheit, besserer Behandlungsqualität und sinkenden Konfliktkosten.
Konflikte im Gesundheitswesen
Kaum ein Arbeitsbereich unserer Gesellschaft ist so komplex organisiert wie das moderne Krankenhaus. Auf jeder Arbeitsebene kooperieren unterschiedliche Berufe, Ausbildungswege, Bildungsniveaus und Weltanschauungen. An jeder Entscheidung sind unterschiedliche Geschlechter, Ränge, Sachgebiete und Zuständigkeiten beteiligt. Ambulante Ärzte verhandeln mit stationären Ärzten, Sozialarbeiter mit Angehörigen, Therapeuten mit Pflegekräften, Fremdfirmen mit Hausmeistern, Chefärzte mit Außenstellen, die Nachtschicht mit der Frühschicht, der Patientenfürsprecher mit dem Personalrat, die Pflegedienstleitung mit der Personalabteilung, die Klinik-Akademie mit dem Verwaltungsrat …
Für jede der oben beschriebenen Konfliktlinien gibt es kleine und größere Beispiele. Eine Auswahl:
- Zwischen zwei Abteilungen wird um die Ausstattung gestritten.
- Ein Unfall-Patient beschwert sich, weil er den Arzt nicht zu sprechen bekommt.
- Der leitende Arzt bemängelt die Umsetzung seiner Anweisungen durch das Personal.
- Zwei fusionierte Stationen wachsen nicht zusammen.
- Ein Pfleger „entführt” einen Patienten aus einer laufenden Therapiesitzung.
Bei genauer Betrachtung lassen sich drei Konfliktbereiche unterscheiden:
- Ärger im multiprofessionellen Team nimmt statistisch den größten Raum im Bewusstsein von pflegerischem und therapeutischem Krankenhauspersonal ein.
- Ärzte und Psychologen äußern sich am häufigsten zu Konflikten rund um Behandlungsfragen.
- Die schwierigsten und härtesten Konflikte (Personaleinsparungen, Umstrukturierungen etc.) werden strukturell ausgetragen und betreffen das gesamte Personal bis zur obersten Leitung.
Auf dieses massive Konfliktpotenzial werden die Akteure des Krankenhausbetriebs in ihrer Ausbildung nur unzureichend vorbereitet. Massive Zeitnot und unterschiedliche „Sprachen” treiben Keile zwischen Menschen, die ursprünglich einen Beruf gewählt haben, dessen Mittelpunkt der Beistand für andere ist.
Wissenschaftliche Befunde
Wenn man einem Arzt die Frage stellt: „Wann ist ein Arzt ein guter Arzt?” erhält man als häufigste Antwort: „Wenn er Fachkompetenz besitzt und sich in seine Patienten einfühlen kann.” Empathie wird weltweit als Schlüsselfaktor einer sinnvollen Arzt-Patienten-Beziehung angesehen, wie etwa die vergleichenden Studien von Melanie Neumann und Kollegen an der Privaten Universität Witten/Herdecke belegen. Ein guter Arzt, Therapeut oder Pfleger muss in der Lage sein, die Gefühle und inneren Zustände seiner Patienten zu erfassen. Darüber hinaus sollte er Patienten vermitteln können, dass er sie versteht. Diese Fähigkeit ist eine Gabe der Natur, die sich durch Training verbessern lässt (Joachim Bauer, Universität Freiburg).
Klinische Empathie basiert auf Kommunikation: Das Personal versteht die Situation, die Gefühle und die Bedürfnisse des Patienten. Es spiegelt ihm Worte und Stimmungen und gibt ihm die Möglichkeit, Missverständnisse zu korrigieren und Auslassungen zu ergänzen. Im Austausch vertieft sich das Verständnis des Personals, der Patient fühlt sich sicherer als zuvor. Klinische Empathie mündet in therapeutisches Handeln, das mit den Patientenwahrnehmungen in Beziehung steht (Stewart Mercer, Universität Glasgow).
Europäische, asiatische und nordamerikanische Studien zeigen, dass klinische Empathie die Fähigkeit von Patienten, mit ihrer Krankheit umzugehen, stark positiv beeinflusst. Zwischenmenschliches Vertrauen zwischen Personal und Patienten steigt mit der Qualität des Informationsaustausches. Der Stress sinkt messbar (Robert Zachariae, Universität Aarhus). Die Beteiligung an Entscheidungen steigert die Patientenzufriedenheit (Sung Soo Kim, Universität Michigan). Die zwischenmenschliche Kompetenz des behandelnden Personals wirkt sich auf die psychologische Anpassung des Patienten an seine Erkrankung und deren Folgen aus. Depressionen und posttraumatische Belastungsstörungen werden gemindert (Michael Andrykowski/Wendy Mager, Universität Illinois).
Stress bei Ärzten, Therapeuten und Pflegepersonal führt nach den Erkenntnissen einer Studie der US-Regierung dazu, dass dieser Berufsstand im Vergleich zu anderen Branchen einen überdurchschnittlich hohen Anteil depressiver Mitarbeiter ausweist. Die Selbstmordrate unter Ärzten liegt bei Männern und Frauen um den Faktor 1,41 bzw. 2,27 höher als in der Gesamtbevölkerung. Als Hauptursachen gelten ein unpersönlicher und gefühlsarmer Umgang mit Patienten, Überlastung, mangelhafte Führung und fehlende Ressourcen (Amanda Ramirez, Universität London). Jobzufriedenheit erwächst hingegen aus guten Beziehungen zu Patienten, Angehörigen und Kollegen sowie durch Verständnis der Krankenhausleitung, Autonomie für das Personal und Aufgabenvielfalt.
Warum Empathie?
Nirgendwo sonst prägen persönliche Empfindungen die Arbeitsbeziehung der beteiligten Personen so stark wie in der Heilbehandlung. Die Arbeit ist personalintensiv und nur bedingt rationalisierbar. In Deutschland stehen über vier Millionen Vollzeitkräfte des Gesundheitswesens im Spannungsfeld der Erwartungen von Patienten, Kollegen und Organisationen.
Da ermöglicht das gezielte Training von Empathie eine neue Qualität der Kommunikation. Empathische Mitarbeiter haben einen geschärften Blick für konflikthafte Situationen, sie erkennen Auseinandersetzungen früh und können sie rechtzeitig lösen. Darüber hinaus erweitert Empathie die Fähigkeiten zur Konfliktmoderation und erleichtert den professionellen Umgang mit starken Emotionen, Anklagen und Schuldzuweisungen. Trainings und Ausbildungen zum Thema „Klinische Empathie” verbinden folgende Ziele:
Individuelle Ziele
- Erhöhung der Arbeitszufriedenheit
- eigene und fremde Bedürfnisse erkennen und aussprechen
- Burnout-Prävention durch Selbstempathie
Teamziele:
- Konflikte im multiprofessionellen Team zeitnah klären
- Empathische Beziehungen durch Feedback- und Gesprächskultur
- Konfliktkosten erkennen und nachhaltig senken
Organisationsziele
- Erfolgreiche Mitarbeiterbindung durch gutes Arbeitsklima
- Führungskräfteentwicklung mit Konfliktmanagement Werkzeugen
- Verbesserung der Beziehungen zu Patienten, Bewohnern, Lieferanten, externen Experten …
Behandlungsziele
- Verbesserung des Informationsaustausches mit dem Patienten und Verbesserung der Behandlungsqualität
- Intensivere Kooperation zwischen medizinischem Personal und Patienten („Compliance”)
- Positive Effekte durch Teilhabe des Patienten an Entscheidungen („Shared Decision Making”)
Empathie trainieren
Lässt sich Empathie trainieren? Eine empathische Haltung wird vor allem durch zwei Aspekte gefördert: Die Vermittlung eines universell anwendbaren Handwerkszeugs sowie darauf aufbauende Übungen der Selbsterfahrung.
Bereits bei einem dreitägigen Basistraining können folgende Ergebnisse erzielt werden: Eine Ergotherapeutin hilft den Teilnehmern ihrer Mutter-Kind-Gruppe, primäre Gefühle und Bedürfnisse wahrzunehmen und auszusprechen. Die Pflegedienstleitung findet bei einem Konflikt um die Urlaubsplanung gemeinsam mit den Streitparteien Lösungen, die die Bedürfnisse aller berücksichtigen. Der Chefarzt drückt in wichtigen Verwaltungsgremien Ärger und eigene Wünsche gewaltfrei aus und erhält Unterstützung. Ein Mitarbeiter der Forensik führt erfolgreich schwierige Dialoge mit aufgebrachten Patienten. Der leitende Stationsarzt drückt seinen Mitarbeitern Wertschätzung und Dank aus.
Andere Themen passen eher in ein Vertiefungsseminar. Wie gehe ich damit um, wenn Patienten starke Gefühle zeigen, mich anschreien oder ignorieren? Wie kann ich gegenüber Kollegen mit Klarheit Grenzen ausdrücken, ohne Schaden anzurichten? Wie lassen sich kalte und heiße Konflikte unter Kollegen ansprechen? Wie lässt sich ein kooperativer Kommunikationsstil umsetzen, wenn ich trotzdem meine Führungsverantwortung ernst nehmen will? Auf welche Art kann ich Empathie sprachlich ausdrücken und dennoch authentisch bleiben? Wie funktioniert das Vermitteln bei Spannungen und Konflikten in Meetings oder therapeutischen Gruppen? Kann ich Macht beschützend ausüben, in Einfühlung mit den Bedürfnissen der Anderen? Wo ist Platz für eigenen Ärger, eigene Trauer und Selbstempathie?
Organisationen entwickeln sich
Einige deutsche Krankenhäuser bilden Abteilungen oder Stationen erfolgreich in Gewaltfreier Kommunikation (GFK) nach Marshall Rosenberg aus. GFK schult die Fähigkeit zu beobachten ohne zu interpretieren. Sie erweitert den Gefühlswortschatz und vereinfacht die spontane Einfühlung in sich und andere. Ihre besondere Effizienz drückt sich in der spontanen Verbindung von Gefühlen mit Bedürfnissen aus. Wird GFK von einer Technik zu einer Haltung, können Anwender innerhalb von Sekunden einen tiefen empathischen Kontakt aufbauen, indem sie Gefühle anderer erfassen, benennen und den Zusammenhang zu unerfüllten Bedürfnissen herstellen.
Empathie ist für Organisationsentwicklung neu und spannend: Die Vermeidung eskalierender Konflikte spart Unternehmen und Organisationen erhebliche Ressourcen, erhöht die Motivation des einzelnen Mitarbeiters und verbessert das Image des Betriebs nach innen und außen. Sie soll Unternehmen des Gesundheitswesens gleichzeitig in den Bereichen der Leistungsfähigkeit und der Qualität des Arbeitslebens unterstützen.
So könnte beispielsweise eine Krankenhausabteilung beschließen, das gesamte Personal in einer „Basisschulung Empathie” weiterzubilden und die Mitarbeiter anschließend dazu anhalten, Ziele für ihre Stationen zu entwickeln. Leitung und Trainerteam schlagen daraufhin Maßnahmen vor, wie die Stationsziele erreicht werden können (z.B. durch die Ausbildung von Multiplikatoren, die Einführung von Übungsgruppen). Die Erfahrung zeigt, dass die Organisation auch auf struktureller Ebene von Maßnahmen dieser Art profitiert, etwa von Blitzlichtrunden in Besprechungen, von der wertfreien Dokumentation bei Übergaben, von interner Konfliktvermittlung.
Fazit
„Wir sprechen zu viel und fühlen zu wenig”, sagt Charles Chaplin als der große Diktator im gleichnamigen Film von 1940. Mit unseren Gefühlen in Kontakt zu kommen, unsere Empathiefähigkeit wiederzuentdecken und eine neue, einfühlsame Sprache zu üben, darin liegt der Schlüssel zu höherer Arbeitszufriedenheit, besserer Behandlungsqualität und sinkenden Konfliktkosten. Der Nutzen dieser Trainings wird von zahlreichen Seminarbesuchern bestätigt: Berichte von Ärzten, Pflegern, Therapeuten und Verwaltungsmitarbeitern finden Sie auf der Homepage www.konfliktmanagement-im-gesundheitswesen.de.
Literaturliste
- Joachim Bauer: Prinzip Menschlichkeit. Warum wir von Natur aus kooperieren.
Heyne, München 2005 - Alf1e Kohn: Mit vereinten Kräften. Warum Kooperation der Konkurrenz überlegen ist.
Beltz, Weinheim 1986 - Melanie Neumann, Friedrich Edelhäuser, Diethard Tauschei, Christian Scheffer: Ärztliche Empathie. Definition, therapeutische Wirksamkeit und Messung. In: Witt, Claudia (2010) : Der gute Arzt aus interdisziplinärer Sicht. Ergebnisse eines Expertentreffens.
KVC Verlag, Essen 2010 - Amanda J. Ramirez, Jill Graham, Mark A. Richards, A. Cull, W.M. Gregory: Mental Health of Hospital Consultants: The Effects of Stress and Satisfaction at Work.
In: The Lancet, Volume 347, lssue 9003, 1996 - Marshall B. Rosenberg: Gewaltfreie Kommunikation.
Junfermann, Paderborn 2001 - Eva Schernhammer, Graham Colditz: Suicide Rates Among Physicians .
In: The American Journal of Psychiatry, 161:2295- 2302, 2004
(c) Al Weckert 2011