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Kinder und Pädagogik: “Weckert liest: Vier Bücher zu der Frage, was die Kindheit zur respektvollen Zone machen kann”
von: Al Weckert
in: Kommunikation & Seminar, Juni 2011, S. 32-33
Im Alter von 11 Jahren kam ich auf eine Schule, die auf einer Insel lag. Jeden Morgen setzte ich mit dem Boot über. Wer es verpasste, hatte schulfrei und erhielt einen unentschuldigten Fehltag im Klassenbuch. Das Gymnasium wurde von Ordensschwestern geleitet und ich gehörte dem ersten Jahrgang an, der Jungen aufnahm. Die 1980er standen vor der Türe und die Jugend im katholischen Rheinland wurde von Nike-Turnschuhen und Aldi-Dosenbier überschwemmt.
Auf der Insel jedoch war alles komplizierter. Am Eingang der Bibliothek saß eine schwarzgekleidete Nonne, die uns Jungs mit unverhohlener Abscheu fixierte und dabei schwarze Socken strickte. Wo sollten wir hin mit unserer Pubertät? Meiner Erinnerung nach verbrachte ich mehr Zeit im Vorzimmer des Direktors als im Klassenraum. Abends, wenn ich meinen Eltern die neusten Vorfälle in der Schule beichtete, wackelten bei uns zu Hause die Wände. Meine Bauchdecke verkrampfte sich für viele kommende Jahre.
In dieser dunklen Zeit rettete mich die Entdeckung eines Buches, das damals eigentlich schon ein alter Hut war. In meiner Ausgabe der „Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung” von Alexander S. Neill klebte der Adressaufkleber meines Vaters, der das Buch allerdings aus vollem Herzen ablehnte. Seine Generation war sich einig: Ein Erziehungsstil, der Kindern die gleichen Rechte und dieselbe Würde lässt wie Erwachsenen, ist falsch und führt zu verwahrlosten, egoistischen Menschen. Mir jedoch rettete dieses Buch den Glauben an das Gute im Menschen. Da behauptete einer, dass ich das Recht habe, glücklich zu sein!
Ich las es wieder und wieder. Meine erste Schülerzeitung, die ich in einem Anflug von Bosheit „Archipel” nannte (in Anspielung auf den damaligen Bestseller von Solschenizyn), lobte es in seiner Nullnummer über den grünen Klee. Auch heute halte ich es noch für eins der großartigsten Bücher, die je über die bedingungslose Liebe zu Kindern geschrieben wurde. Viele Jahrzehnte vor Marshall Rosenbergs „Gewaltfreier Kommunikation” hat die Schule Summerhill einen bedürfnisorientierten Erziehungsstil bereits konsequent verwirklicht.
Neill schrieb die erste Ausgabe seines Buches in den 50ern des 20. Jahrhunderts. Viele seiner zum damaligen Zeitpunkt wissenschaftlich noch unerforschten Ansichten über innere Motivationssysteme wurden inzwischen bewiesen. Umso erfreuter war ich, als 2010 das Buch „Liebe und Eigenständigkeit” von Alfie Kohn erstmals in Deutschland erschien. Kohn wertet seit Jahrzehnten wissenschaftliche Studien über die Folgen unterschiedlicher Erziehungssysteme aus. „Liebe und Eigenständigkeit” ist ein leidenschaftliches wissenschaftliches Plädoyer für die Abschaffung von Belohnung und Strafe als Grundpfeiler unserer Erziehungsphilosophie. Belohnung und Strafe machen Menschen wütend, sie untergraben die Beziehungen zu unseren Kindern, sie werden zum Vorbild für den Gebrauch von Macht und Gewalt und sie lenken Kinder vom Wesentlichen ab: aus sich selbst heraus glücklich zu werden. Das Buch bebt vor Enttäuschung, was Belohnung und Strafe auch heute noch entgegen jeder Logik gesellschaftlich anrichten.
Das Kapitel „Sagen Sie nicht unnötig nein” begleitet mich aktuell sehr intensiv, wenn ich Zeit mit meinen Kindern verbringe – übrigens mit ganz wundervollen Folgen. Indem ich besser zuhöre und verstehe, entsteht immer mehr Nähe und Wertschätzung zwischen Vater und Töchtern. Das genießen wir alle.
Nicht viel anders geht es mir mit Samy Molchos Buch „Körpersprache der Kinder”. Über viele Jahre hinweg hat die Fotografin Nomi Baumgartl den Autor gemeinsam mit seinen Kindern, seiner Frau und den Großeltern fotografiert. Das daraus entstandene Gemeinschaftswerk ist in jeder Beziehung magisch. Auf rund 200 Seiten beschreibt Molcho die Bedeutung der Körpersprache von der Geburt bis zur Pubertät. Fast ebenso viele sehr persönliche und bewegende Fotos illustrieren seine Thesen.
Wer die Texte und Bilder aufmerksam liest, begegnet Kindern anschließend möglicherweise mit neuer Offenheit, mit wachsendem Respekt und Interesse. Besonders bewegt hat mich das Kapitel über die „Gefühlsschaukel”. Es handelt sich dabei um alltägliche Spiele, die im Kind starke Gefühle hervorrufen, die immer intensiver werden, bis das Kind vor Freude und Erregung schreit. Alle Menschen kennen solche Spiele mit Kleinkindern, aber vielen Erwachsenen bereiten solche Spiele Unbehagen. Molcho behauptet, dass Kinder, die diese Gefühlsintensität als Kleinkinder nicht erleben dürfen, auch als Erwachsene Angst vor intensiven Gefühlen haben werden. Als ich diese Zeilen las, wurde ich von einer unendlichen Dankbarkeit meiner Frau gegenüber erfüllt, die seit Jahren die Gefühlsschaukel mit unseren Kindern praktiziert. Ich muss zugeben: Bisher war ich oft davon geängstigt und genervt. Das hat sich nun ins Gegenteil verkehrt.
Seitdem ich in der Grundschule unserer jüngsten Tochter eine Trainingsgruppe für Gewaltfreie Kommunikation für Lehrer und Eltern leite, beschäftige ich mich automatisch auch mit der Frage, wie sich eine bedürfnisorientierte Sprache an Kinder vermitteln lässt. Sura Hart und Victoria Kindle Hodson haben dafür ein eigenes System erfunden: die respektvolle Zone. In ihrem Buch „Das respektvolle Klassenzimmer” erläutern sie in neun Schritten, wie sich eine respektvolle Zone in der Schule errichten lässt. Als eine respektvolle Zone bezeichnen Hart und Kindle Hodson einen Raum, in dem alle Anwesenden das Recht und die Fähigkeit besitzen, ihre Gefühle und Bedürfnisse mitzuteilen. Dieser Raum gilt gleichermaßen für Lehrer und Schüler. Das Buch liefert eine Fülle von Materialien und Anleitungen, wie eine Schulklasse gemeinsam mit den Lehrern eine Sprache lernen kann, die Zwang durch frei gewählte Kooperation und „Macht über … ” durch „Macht mit … ” ersetzt. Einige Eltern meiner GFK-Gruppe sind neugierig geworden. Ich freue mich schon darauf, dieses Lernsystem demnächst in unserer Schule ausprobieren zu dürfen.
Als meine ältere Tochter in ihrer ersten Schule anfing, gegen Zwang und „Macht über … ” zu rebellieren und den Schulbesuch verweigerte, gönnten wir ihr ein Jahr lang den Besuch der Summerhill- Schule im Osten Englands. Für uns Eltern war es eine ungeheure Überwindung. Es ist etwas völlig anderes, ob man über Freiheit liest und redet oder sie seinen Kindern gewährt. Die Entscheidung hat sich jedoch für alle Beteiligten gelohnt. Seit ihrem Summerhill-Jahr lacht unsere Tochter wieder und ich hatte die Gelegenheit an Neills Grab Blumen abzulegen. Neill und seine Schule zu besuchen, war für mich als Schüler ein ferner Traum. Als er Wirklichkeit wurde, habe ich unendlich viel Kraft getankt.
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