Empathie-Training
Organisationsentwicklung
Konfliktmanagement
Von Al Weckert
Die Grenzen der klinischen Psychologie und der Weg zu einer besseren Welt.
Ganzen Artikel aus Kommunikation & Seminar (August 2014) downloaden: Marshall Rosenberg Biografie KS
Marshall Rosenberg, der Erfinder der Gewaltfreien Kommunikation (GFK), ist auf den Bestsellerlisten der großen Buchhändler seit 15 Jahren unangefochten Nummer 1 im Bereich „Konflikt”, „Kommunikation” und „Mediation”. Trotzdem lassen sich weder in Büchern noch im Internet umfassende Details zu seiner Biografie und seinem beruflichen Lebensweg finden. Wer Genaueres über den Werdegang Marshall Rosenbergs lernen will, muss nach seinem Rückzug ins Private im Jahr 2011 rare Quellen ausgraben: Doktorarbeiten, Interviews, Fernsehsendungen und Seminar-Mitschnitte, in denen sich Rosenberg zu einzelnen Stationen seines Lebens äußerte. Selbst seine Wegbegleiter verfügen immer nur über ein Ausschnittswissen. Und viele Erzählungen Rosenbergs lassen sich nur ungenau datieren.
Wer sich jedoch die Mühe macht, mit den Informationsfragmenten zu puzzeln, erfährt Erstaunliches, das auch das Verständnis für die Gewaltfreie Kommunikation vertieft.
Marshall Rosenberg kam am 6. Oktober 1934 in Ohio, USA, zur Welt. 194 3 zog seine Familie in die Autostadt Detroit, wo der Vater einen Job als Transportarbeiter fand. In Detroit machte Rosenberg prägende Gewalterfahrungen. Fast täglich wurde er von Mitschülern für seine Religionszugehörigkeit geprügelt; die Rosenbergs waren nicht praktizierende Juden. Bald brachen in dem Schwarzenviertel, in dem die Rosenbergs preisgünstig Unterkunft gefunden hatten, schwere Rassenkrawalle aus. In der direkten Nachbarschaft wurden binnen einer Woche 30 Menschen getötet. Rosenberg durfte tagelang das Haus nicht verlassen.
Daheim erlebte er eine Solidarität und Empathie gegenüber schwachen und kranken Menschen. Die Familie pflegte die sterbende Großmutter, den dementen Großvater und eine kranke Tante, obwohl den Rosenbergs wenig finanzielle Mittel zur Verfügung standen. Eine besondere Rolle nahm Onkel Julius ein, der den Eltern bei der Pflege unter die Arme griff. „Er war Apotheker und seine Apotheke lag ebenfalls in einer schwarzen Nachbarschaft. Er wurde aber nie beraubt, weil er allen, die sein Geschäft betraten, mit starkem Mitgefühl begegnete.”
In den Erinnerungen Marshall Rosenbergs war Onkel Julius der Einzige, der ihm stets mit einem Lächeln begegnete. Das übrige Umfeld war durch Krankheit, Pflege und Überlebenskampf derart beschäftigt, dass es nur wenig Aufmerksamkeit für den Heranwachsenden erübrigte. Der Vater war äußerst schweigsam und zeigte gegenüber seinem Sohn keine Gefühle („Stone Face”, sagt Rosenberg dazu). Die Mutter war eine extrovertierte Kartenspielerin und Profi-Bowlerin, die den Jungen dazu anhielt, bei Konflikten erbarmungslos zurückzuschlagen. Marshall Rosenberg verlegte sich auf eine Doppelstrategie: Innerhalb der Familie machte er sich unsichtbar. In der Schule und auf der Straße entwickelte er sich zu einem gefürchteten Raufbold.
Mit der Zeit begannen drei Arten von Fragen im Kopf des heranwachsenden Rosenberg zu kreisen: Warum wollen sich Menschen gegenseitig wehtun? Was lässt sie gewalttätig werden? Warum bleiben andere Menschen selbst unter schlimmsten Umständen mitfühlend? Wie lässt sich das beeinflussen und verändern? Welche Wege stehen einem Menschen jenseits von Gewalt und Selbstverleugnung zur Wahl?
Nach diversen Krankenhaus-Aufenthalten infolge von Schlägereien und nachdem er bereits dreimal von einer Schule verwiesen worden war, zogen die Rosenbergs 1950 in einen friedlicheren Stadtteil, in dem der Junge einen abiturähnlichen Abschluss machte. Intellektuell galt er als hochbegabt. Eine Hausarbeit zum Thema Kriminalpsychologie motivierte ihn zu einem Psychologiestudium. Er erwartete, dass die Psychologie seine Lebensfragen beantworten könne. Später änderte sich diese Einschätzung. Nicht die Wissenschaft, sondern die Begegnungen mit einfühlsamen und inspirierenden Persönlichkeiten formten sein Bild von einem hilfreichen Kommunikationsprozess.
Ein noch ausführlichere Darstellung der Jugend Marshall Rosenbergs finden Sie hier.
An den Universitäten Michigan und Wisconsin arbeitete Rosenberg ab 1953 weiter an seinem Image als Bad Boy, Hochbegabter und Rebell. Dieses Leben in einer „schwarzen Wolke”, wie er es einmal nannte, änderte sich erst durch die Begegnung mit dem Soziologie-Professor Michael Hakeem. Hakeem hatte die klinische Psychologie offen kritisiert und forderte Rosenberg dazu auf, nicht nur auf den Patienten, sondern auch auf dessen Umfeld zu schauen. Klinische Psychologie stoße an ihre Grenzen, wenn die Strukturen einer Gesellschaft zum Verhalten der Patienten beitrügen. Dieser Gedanke spiegelte Rosenberg seine eigene verfahrene Situation zurück und rüttelte ihn wach. Hakeem wurde sein Freund und dessen Kritik an der klinischen Diagnose einer Neurose (eine „pseudowissenschaftliche Sprache für Werturteile”) veränderte Rosenbergs Denken. „Hakeem machte mein ganzes Studium zunichte.”
In dieser Phase der Neuorientierung begegnete Rosenberg Carl Rogers, der mit der Technik des aktiven Zuhörens und der klientenzentrierten Gesprächstherapie internationale Prominenz erlangt hatte. Rogers nahm Rosenberg 1960 in ein Forschungsprogramm zur Therapie-Effizienz mit auf. Die Ergebnisse der Studie betonten die Bedeutung von Empathie, Aufrichtigkeit, Authentizität und Gleichwertigkeit im Arzt-Patienten-Verhältnis für jeden Heilungsprozess. Die Studie steJlte dominierende Therapieformen, allen voran die Psychoanalyse, infrage. Rogers betonte insbesondere die Bedeutung der Anerkennung von Gefühlen für den Therapieprozess.
Die von Hakeem und Rogers geweckte Neugierde wurde nochmals verstärkt, als Rosenberg in dem Buch „Moral Therapy” den Satz fand: „Don’t cure us. Teach us how to live” (Heile uns nicht. Unterrichte uns darin, zu leben – von Joseph Conrad). Rosenberg formulierte eigene Forschungsfragen: Was genau brauchen Menschen? Wie können wir ihnen beibringen, das auch zu bekommen, anstatt sie zu therapieren? Ähnliche Überlegungen fand Rosenberg beim vergleichenden Studium der Religionswissenschaften: Was ist der Sinn unseres Daseins? Welche Fähigkeiten braucht es, um diesem Sinn gerecht zu werden? Wie unterrichte ich Menschen darin?
Rosenberg verließ die Universität 1961 mit einem Ph. D. in klinischer Psychologie. Bereits auf der nächsten Zwischenstation, als Krankenpsychologe, versuchte er nicht mehr Einzelpatienten, sondern auch die dazugehörigen Familien zu behandeln und den von ihm gehassten „ doctor shit” durch wahrhaftige Mitmenschlichkeit zu ersetzen. Mit dieser Haltung kam auch der finanzielle Erfolg. Rosenberg wurde Teilhaber einer eigenen Praxis in St. Louis. Er heiratete, seine drei Kinder besuchten eine Privatschule. Seine Arbeitsweise, die er seit Jahren praktizierte, stellte er auf der ersten amerikanischen Konferenz für Familientherapie vor. „Die ganze Konferenz blickte auf mich. Ich war kein Störenfried mehr. Im Grunde war es mein erster großer Workshop.” Das Publikum, zunächst skeptisch, war am Ende schier begeistert. „Dieser Tag war wunderschön, wie ein Traum, überaus kraftvoll. Es war der Wendepunkt in meinem Berufsleben. Ich brach in Tränen aus.”
Den Anteilseignern seiner Praxis missfiel es zunehmend, dass die sozial orientierten Gruppen und Verbände, die Rosenberg von nun an begeistert um Unterstützung baten, nur schlecht bezahlen konnten. Sie wollten Rosenberg daran hindern, sein Fachwissen an Konkurrenten zu vermitteln. Es kam zum Bruch und damit auch zum Ausstieg aus einem komfortablen Leben mit Eigenheim und Fuhrpark. Und es kam zur Scheidung von seiner Ehefrau Vivian.
Ende der 60er-Jahre begann Marshall Rosenberg ein Wanderleben durch die USA. „Ich wurde von den Leuten auf der Straße herbeigerufen und spürte freudig ihren Ruf. Ich hatte nie das Gefühl, etwas opfern zu müssen. Für mich war es die beste Entscheidung.” Er trampte von Ort zu Ort, von Workshop zu Workshop und schlief bei Freunden oder unter Brücken. Er beschäftigte sich intensiv mit der Arbeit des brasilianischen Pädagogen Paulo Freire, dessen Alphabetisierungsprogramme Millionen von Menschen Bildung gebracht hatten. Aus dem Wunsch nach einer einfachen Lehre, um Menschen zu befähigen, konstruktiv für die Erfüllung ihrer Bedürfnisse einzutreten und ein sinnvolles Leben zu führen, entstand Ende der 60er-Jahre die Urform der Gewaltfreien Kommunikation.
Aus dieser Zeit stammen die ersten Veröffentlichungen von Rosenberg, die seine Arbeit mit Kindern und in sozialen Gemeinschaften reflektieren. Das neue Jahrzehnt leitete für Rosenberg eine experimentelle Lebensphase voller Selbsterfahrung und Brüche ein. Hervorzuheben sind die Zusammenarbeit mit Al Chapelle („die einflussreichste Person in meinem Leben”) und die „Feminisierung des GFK-Modells”.
Al Chapelle, Anführer einer schwarzen Gang, und Rosenberg gerieten sich Anfang der 70er-Jahre bei einer Stadtteilkonferenz heftig in die Haare. Rosenberg hörte ihm während dieser Auseinandersetzung lange empathisch zu. Anschließend bat Chapelle Rosenberg, ihm den Empathie-Prozess beizubringen. Die beiden schlossen ein Abkommen: Rosenberg lehrte Chapelle die GFK, dafür begleitete Chapelle Rosenberg bei Konflikt-Vermittlungen in amerikanischen Großstadt-Ghettos. „Al Chapelle lehrte mich, wie man zu den Menschen herüberkommt, ihre Sprache zu sprechen, einen Style zu entwickeln.”
Die Feminisierung des GFK-Modells wurde insbesondere durch Vicki Legion, Uta Simons, Annie Muller und Rosenbergs zweite Ehefrau Gloria ausgelöst. In den Beziehungen zu diesen Frauen hinterfragte Rosenberg sein neues Image als männlicher Underground-Star, in dessen Glanz er sich sonnte. Vicki Legion bezeichnet er als „beste Lehrerin zum Thema Sexismus. Sie kritisierte mich ständig. Es war wundervoll”. Mit Gloria praktizierte er eine neue Form der Beziehung, in der beide eine Gleichzeitigkeit von Liebe und Eigenständigkeit anstrebten. Und während das GFK-Modell seinen Fokus stets auf Probleme gerichtet hatte, brachte Uta Simons eine neue Komponente des Feierns und der Wertschätzung in die GFK ein. Durch sie erfuhr Rosenberg, „wie man Schönheit und Freude in die Welt bringt”.
Annie Muller machte Rosenberg Anfang der 80er-Jahre mit dem spirituellen Gehalt seiner Arbeit vertraut. Die war ihm bis dato nicht bewusst. „Empathie kann Wunder bewirken. Diese Kraft ist immer da und man kann sich mit ihr zu jeder Zeit verbinden.” Und er räumte angesichts seiner öffentlichen Wahrnehmung ein: „Darüber zu sprechen, macht mir wirklich Angst.” In einem Zeitungsartikel wurde er als Kreuzung aus Rasputin (russischer Geistheiler) und Billy Graham (amerikanischer Erweckungsprediger) verspottet.
Die 80er-Jahre sind für Marshall Rosenberg und das Modell der Gewaltfreien Kommunikation die Zeit der Konsolidierung. 1983 erscheint die erste (noch sehr schmale) Fassung von „A Model for Nonviolent Communication”, in der die vier Schritte der GFK beschrieben werden. 1984 gründet Rosenberg in Sherman, Texas, seine eigene Organisation: das Center for Nonviolent Communication (CNVC). Kurze Zeit darauf führt Rosenberg die bekannten Handpuppen ein – zunächst Schakal und Ente, später Giraffe und Wolf.
1985 lädt der Arbeitskreis Friedenserziehung in München Rosenberg erstmals nach Deutschland ein.1 „Ausgerechnet München”, erinnert sich Rosenberg, „die Stadt der Bewegung.” Er denkt zurück an seine Zeit in Detroit, wo er für seine jüdische Herkunft verprügelt wurde. „Nach Deutschland zu kommen und so warmherzig empfangen zu werden, war etwas ganz Besonderes für mich.”
Der Durchbruch für die GFK in Deutschland gelang Marshall Rosenberg durch einen Auftritt beim evangelischen Kirchentag 1992. Das Interesse war so stark, dass der Vortrag in eine große Kirche verlegt werden musste. 2001 wurde das Buch „Gewaltfreie Kommunikation. Eine Sprache des Lebens” in Deutschland veröffentlicht.2 Mit fast 300.000 verkauften Exemplaren entwickelte es sich zu einem Bestseller. Nur ein Jahr später startete der offizielle Trainer-Zertifizierungsprozess in Deutschland, der 2007 aus unterschiedlichen organisatorischen Gründen ausgesetzt und erst 2012 wieder aufgenommen wurde.
Die Zeit zwischen der Gründung des CNVC 1984 und dem gesundheitlich bedingten Rückzug Marshall Rosenbergs ins Privatleben 2011 ist von einer ununterbrochenen Reisetätigkeit geprägt. Die Liste der Orte und Länder, in denen Rosenberg Workshops gegeben und GFK-Trainer ausgebildet hat, ist beeindruckend lang. Sein Einfluss auf soziale Bewegungen, die sich mit Konfliktvermittlung beschäftigen, ist immens. Inzwischen wird die Gewaltfreie Kommunikation auch von Personalabteilungen in Wirtschaftsunternehmen geschätzt.
Was Marshall Rosenberg nicht gelang, ist der Aufbau einer globalen Organisation, die hohen Ansprüchen an Transparenz, Mitsprachemöglichkeit und Funktionsfähigkeit gleichermaßen genügt. Seine geistigen Erben beschäftigen sich aktuell mit der Neuausrichtung des CNVC und möglichen Kooperationen mit weiteren, in der Zeit des Zertifizierungsstopps entstandenen GFK-Initiativen. Rosenbergs Wirken hätte sicher den Friedensnobelpreis verdient. Doch selbst ohne diesen Preis steht Marshall Rosenberg in einer Reihe mit den großen Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts. Sein Lebenswerk breitet sich unablässig weiter aus. Es trug und trägt noch immer zur Entwicklung des menschlichen Bewusstseins bei.
Marshall Rosenberg starb am 7. Februar 2015 in Albuquerque, New Mexico.
(c) Al Weckert, Autor von „Gewaltfreie Kommunikation für Dummies“ (Wiley) und „Tanz auf dem Vulkan“ (Junfermann)
Marshall Rosenberg bei Wikipedia
Ausführliche Biografie von Marshall Rosenberg: Kindheit und Jugend 1934-1953
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